Technischer Vertrieb muss bei Digitalisierung zulegen
Ist der Technische Vertrieb deutscher Unternehmen bei der digitalen Transformation gut aufgestellt? Eine aktuelle Forschungsstudie der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) kommt zu dem Ergebnis, dass die digitalen Kompetenzen von Vertriebsmitarbeitenden im Business-to-Business (B2B)-Bereich ausbaufähig sind – und dass ein Blick über den Tellerrand nicht schaden kann.
So genau hat noch keine Forschungsarbeit auf die digitalen Kompetenzen von Mitarbeitenden des Technischen Vertriebs geschaut: Eine umfassende Arbeit von Wirtschaftsingenieuren der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und der Ruhr-Universität Bochum hat nicht nur die digitalen Fertigkeiten und Fähigkeiten deutscher Vertriebskräfte untersucht, sondern die Ergebnisse auch in einen internationalen Zusammenhang gestellt. Dabei gab es teilweise bemerkenswerte Unterschiede. In Deutschland werden beispielsweise Kenntnisse bei Virtual und Augmented Reality oder den Blockchain-Technologien bei weitem nicht so wichtig eingeschätzt wie in China, Indien und den USA. Ein größeres Augenmerk liegt – wie in den anderen Vergleichsländern auch – in Deutschland auf der Sicherheit und Analyse von großen Datenmengen (Big Data).
Die rasante Digitalisierung der Industrie mit ihren bahnbrechenden Möglichkeiten hat neue Geschäftsmodelle geschaffen und altbewährte auf den Kopf gestellt. Die Welt von Produktion, Kauf und Verkauf ist nicht mehr vergleichbar mit der vor einigen Jahren: Maschinen sind vernetzt, die Herstellung automatisiert. Die Geschäfte werden zunehmend von Künstlicher Intelligenz beeinflusst, die riesige Datenmengen auswertet und dadurch Verkaufsstrategien ableitet. „Aber immer noch trifft man hierzulande in Sachen Digitalisierung auf unzureichende Kompetenzen, mangelndes Bewusstsein im Unternehmen und veraltete Strukturen“, sagt Heiko Fischer. Er arbeitet im Rahmen einer kooperativen Promotion (siehe unten) intensiv am Thema „Digital Sales“. „Die Potentiale der Vernetzung werden nicht vollständig ausgeschöpft. Wie es beim Technischen Vertrieb hinsichtlich der Digitalisierung aussieht, wurde bislang nur ansatzweise untersucht.“
Zeitenwende auch beim Technischen Vertrieb
Dabei ist auch der Technische Vertrieb von der Zeitenwende stark betroffen. Noch vor wenigen Jahren machten Innen- und Außendienstler mit persönlichen Kundenbesuchen, handgeschriebenen Listen, Excel-Tabellen, Faxgeräten, Telefon, E-Mails und einfachen Webseiten Geschäfte. Heute gehören für sie oftmals schon Customer Relationship Management (CRM)-Systeme, Online-Shops, Videokommunikation, Sales Bots, der Einsatz Künstlicher Intelligenz und vieles mehr zu den Standardwerkzeugen.
Welche digitalen Kompetenzen brauchen heute Mitarbeitende im Technischen Vertrieb, um nicht Gefahr zu laufen, eines Tages durch technische Lösungen ersetzt zu werden? Welches „Handwerkszeug“ benötigen die Sales-Kräfte der Zukunft? Und: Werden die Schwerpunkte in Deutschland analog zu den technologisch führenden Volkswirtschaften gesetzt, oder gibt es hier einen abweichenden Fokus? „Neben einer detaillierten Literaturrecherche und -auswertung haben wir umfangreiche Zahlen aus Befragungen von Vertriebsmitarbeitenden in China, Indien, den USA und Deutschland ausgewertet.“, sagt Professor Dr.-Ing. Sven Seidenstricker von der DHBW Mosbach, „In der Analyse haben wir einige durchaus aussagekräftige Ergebnisse erhalten.“ Dazu zählen:
- Viele der heute wichtigsten Technologiekompetenzen – Cybersicherheit, Cloud- und Edge-Computing, Virtual und Augmented Reality, Blockchain, Künstliche Intelligenz und die Analyse großer Datenmengen (Big Data) – werden vor allem von China und Indien priorisiert, gefolgt von den USA. „In Deutschland liegt der Fokus vor allem auf der Datenanalyse, dem Cloud- und Edge-Computing und der Cybersicherheit“, sagt Heiko Fischer. „Das lässt sich dadurch erklären, dass dem Vertrieb immer mehr Daten vorliegen. Die müssen natürlich gesichert und analysiert werden, um daraus Zukunftsentscheidungen abzuleiten – und diesen Nutzen sieht man bei uns besonders deutlich."
- Die Wichtigkeit der Datensicherheit hält Fischer für eine Art „deutsches Markenzeichen“: „Hier gibt es durchaus größere Ängste als in anderen Ländern, gehackt zu werden, Daten oder patentierte Entwicklungen zu verlieren, Opfer von Industriespionage zu werden.“ Allerdings lande die Kompetenz hinsichtlich der Datensicherheit und -auswertung bei allen Ländern auf Platz 1, werde also als besonders wichtig eingeschätzt.
- Bei anderen Technologiekompetenzen wertet Deutschland indes abweichend. Überrascht waren die Forscher zum Beispiel darüber, dass Virtual und Augmented Reality in der Rangliste der deutschen Sales-Mitarbeitenden eine weniger wichtige Rolle spielen. „Gerade Deutschland zeichnet sich ja durch einen innovativen und leistungsfähigen Maschinen- und Anlagebau aus, der oft komplexe Strukturen aufweist. Virtual und Augmented Reality sind sehr gut geeignet, um Kunden und Anwendenden komplizierte Konstruktionen und Abläufe zu erklären“, sagt Fischer.
- Auch lassen die Daten den Schluss zu, dass sich Vertriebsmitarbeitende in Deutschland mehr als Fachkräfte in anderen Ländern auf „ihren“ Sales-Bereich konzentrieren und Bereiche wie IT und Programmierung weniger im Blick haben. „Salopp gesagt: Der Technische Vertrieb wird keine Anwendungen programmieren. Aber in Indien, China und den USA haben die Sales-Mitarbeitenden die Möglichkeiten aktueller Technologien insgesamt mehr im Blick und wagen deshalb mehr Nähe zur IT“, sagt Sven Seidenstricker. „Eine engere Verzahnung macht hier Sinn: Daten zu analysieren und zu interpretieren, ist nicht Aufgabe des Programmierenden – und Applikationen zu programmieren, nicht die der Sales-Mitarbeitenden.“ Ein intensiver Austausch beider Ebenen sei aber heute essentiell.
„Der Digitalisierung mit offenen Armen begegnen“
Professor Dr.-Ing. Sven Seidenstricker und M. Sc. Heiko Fischer sind sich daher einig, dass deutsche Unternehmen beim Technischen Vertrieb in Sachen Digitalisierung noch Nachholbedarf haben. „Unternehmensführungen und Sales-Mitarbeitende aller Ebenen sollten der Digitalisierung mit offenen Armen begegnen“, appelliert Seidenstricker. „Die digitalen Kompetenzen müssen aktiv weiterentwickelt werden, weil sie den Unternehmen insgesamt mehr Möglichkeiten beim Vertrieb eröffnen.“ Auch sollte der Blick über den Tellerrand in Richtung IT und Programmierung verstärkt werden, „so wie in der Vergangenheit ja auch Vertrieb und Marketing enger zusammengefunden haben.“ Gemeinsam könne man erkunden, wie sich neue technologische Möglichkeiten zu einer intensiveren Kundenbeziehung mit verbesserten oder neuen Vertriebsmöglichkeiten nutzen lassen: „Nicht nur Lizenzen buchen, sondern auch einen Mehrwert schaffen“, bringt es Seidenstricker auf den Punkt.
Auch Heiko Fischer betont die Bedeutung einer engeren Verzahnung von Vertrieb und IT. „Man muss die Funktionsbrille absetzen und sich mehr mit den anderen Abteilungen austauschen. Mal links und rechts schauen: Wo kann man von den anderen lernen und ihnen das eigene Wissen zur Verfügung stellen?“ Wenn derzeit jemand vom Technischen Vertrieb „Künstliche Intelligenz“ lese, schiebe er oder sie es der IT zu – „da sollen die sich drum kümmern.“ Hilfreicher sei es, nach gemeinsamen Ansätzen zu suchen, um am Ende ein besseres Geschäftsergebnis zu erzielen. „Dabei darf man sich auch mal was zutrauen, indem man Neues ausprobiert – anstatt immer darauf zu warten, dass andere es entwickeln, und das dann zu kopieren.“ Für den Technischen Vertrieb habe es in den vergangenen Jahren enorme Weiterentwicklungssprünge gegeben. Heiko Fischer: „Die entsprechenden Kompetenzen dafür zu entwickeln, heißt mitzuspringen, anstatt stehen zu bleiben.“
Über die kooperative Promotion
Für Mitautor Heiko Fischer von der DHBW Mosbach am Campus Bad Mergentheim ist die Studie zu digitalen Kompetenzen im B2B-Vertrieb Gegenstand seiner kooperativen Promotion zur digitalen Transformation im Vertrieb. Die zunehmende Expertise der DHBW Mosbach im Bereich Forschung und Entwicklung findet auch in dieser Promotionsarbeit ihren Ausdruck. Das Forschungsvorhaben wird zusammen mit der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt, um die unterschiedlichen Fachdisziplinen optimal zu verknüpfen.
Weitere Infos finden Sie in den folgenden Publikationen:
Fischer, H., Seidenstricker, S. & Poeppelbuss, J. (2022). The triggers and consequences of digital sales: a systematic literature review. Journal of Personal Selling & Sales Management, 1–15.
Abrufbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/08853134.2022.2102029
Fischer, H., Seidenstricker, S. & Berger, T. (2022). SMEs’ Digitization of the Sales Process: Current Status and Future Potentials. In E. Akcaoglu & R. Wehner (Hrsg.), 5th International Business Conference Proceedings: Small Firm Internationalisation and International Entrepreneurship: Managing Sustainable Innovation (S. 135–140). Würzburg International Business Press. Abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/364736707_SMEs'_Digitization_of_the_Sales_Process_Current_Status_and_Future_Potentials
Fischer, H., Seidenstricker, S., Berger, T. & Holopainen, T. (2022). Artificial Intelligence in B2B Sales: Impact on the Sales Process. In T. Ahram, J. Kaira & W. Karwowski (Hrsg.), AHFE International, Artificial Intelligence and Social Computing (S. 135–142). AHFE International. Abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/361247303_Artificial_intelligence_in_B2B_sales_Impact_on_the_sales_process